Städtische Quartiere und neue Machtverhältnisse

Obwohl die Weltwirtschaftskrise von 1928/1929 Auswirkungen auf den Wohnungsbausektor hatte, konnte der Berliner Magistrat auf stadteigenem Gelände zeitgleich 1929-31 zwei Großsiedlungen erbauen: die Weiße Stadt in Reinickendorf und die Siedlung Siemensstadt in Charlottenburg und Spandau. Die Ausführung übernahmen stadteigene gemeinnützige Baugesellschaften, die Leitung lag bei Stadtbaurat Martin Wagner, der für den Entwurf zwei Teams aus renommierten Architekten des Neuen Bauens zusammenstellte, unter anderen Hans Scharoun, Walter Gropius, Hugo Häring, Otto Rudolf Salvisberg und Otto Bartning.

Mit der Großsiedlung Siemensstadt und der Weißen Stadt in Reinickendorf, jeweils in der Nähe von Industriestandorten, entstanden großzügige, moderne Wohnquartiere, durchzogen von gemeinschaftlichen Grünanlagen, die in geradezu idealtypischer Weise die Ziele des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) verkörperten: Licht und Luft für ein gesundes Wohnen mit einem Raumkonzept für Wohnen und Freizeit, Arbeit und Verkehr nach menschlichem Maß. Die Weiße Stadt und die Großsiedlung Siemensstadt zählen zugleich zu den letzten Siedlungsvorhaben unter der Ägide des Berliner Stadtbaurats Martin Wagner, die dem Leitbild des Neuen Bauens und dem Ziel einer Erneuerung der städtischen Lebenskultur folgen, bevor es 1931 mit der Brüning’schen Notverordnung zur Streichung staatlicher Fördermittel kam.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933, die auch in der Stadtverwaltung zu völlig veränderten Organisations- und Personalstrukturen führte, endete in Berlin der demokratische, weitgehend von der Sozialdemokratie, von linken Gewerkschaften und Genossenschaften geprägte Wohnungsbau. Martin Wagner musste aus dem Stadtbauratsamt ausscheiden. Die Baupolitik der Nationalsozialisten folgte einer anderen Kunstauffassung, Modernität und Neues Bauen waren nicht mehr erwünscht, Bruno Taut, Martin Wagner, Walter Gropius und viele andere Protagonisten des modernen Siedlungsbaus mussten ins Exil gehen.

Alle Siedlungen blieben in den 1930er und 1940er Jahren von größeren Umbauten und Überformungen sowie von Kriegszerstörungen weitgehend verschont. Erste Instandsetzungsmaßnahmen nach dem Krieg, bei denen im Einzelfall auch nicht dem Original entsprechend verfahren wurde, führten zu Veränderungen im Erscheinungsbild. Ab den 1980er Jahren konnten diese im Rahmen denkmalgerechter Wiederherstellungen in großen Teilen wieder rückgängig gemacht werden.

Die designierten Siedlungen haben ihre Bedeutung als vorbildliche soziale Wohnorte bewahrt. Bis heute sind die Wohnungen mit den als vorbildlich geltenden Grundrissen gefragt und sie zeichnen sich durch eine hohe Akzeptanz unter ihren Bewohnern aus.