Vortrag Christian Bunners vom 7.10.2010
Ein literarischer Spaziergang durch die Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung mit Fritz Reuter
Das Fritz-Reuter-Viertel in Berlin-Britz bietet Literaturfreunden eine einmalige Stadtlandschaft. Es gibt nur wenige Orte in Deutschland, die einem einzigen Dichter so viele Straßen gewidmet haben wie in Britz. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Als die Straßennamen gegeben wurden, in den Jahren 1926 bis 1931, da hatte Fritz Reuter eine Popularität, von der wir uns nur noch schwer eine Vorstellung machen. Er gehörte zu den meistgelesenen deutschen Schriftstellern und stand in einer Reihe mit Dichtern wie Shakespeare, Schiller und Goethe. Seine literarischen Gestalten – etwa Johann und Marie aus Kein Hüsung, Hawermann und Bräsig aus der Stromtid oder Dürten und Konrektor Äpinus aus Dörchläuchting – sie waren so volkstümlich wie Romeo und Julia, Wilhelm Tell oder Faust und Gretchen. Durch den rückläufigen Gebrauch der plattdeutschen Sprache sind die Figuren Reuters im kulturellen Allgemeinbewusstsein heute verblasst. Damals wusste man: dieser Dichter hat nicht nur regionale und nationale, sondern auch globale Bedeutung. Es erschien angemessen, ihm in der Weltstadt Berlin ein ganzes Wohnviertel zu widmen. Freilich – auch heute ist Reuters Bedeutung nicht vergessen. Seine Bücher erfahren ständig Neuauflagen. Das Bundesfinanzministerium hat zum 200. Geburtstag des Dichters am 7. November 2010 eine Briefmarke herausgegeben. Eindrucksvoll vergegenwärtigen die Britzer Straßen Reuters Leben und Werk.
Als die Straßen in der Zeit der Weimarer Republik benannt wurden, da war das soziale und demokratische Engagement des Dichters noch allgemein bekannt. Es war sein Ziel gewesen, für Arme, Schwache und Entrechtete zu wirken. Alle Menschen, so hat er einmal geschrieben, sollen Brot und Wohnung und Bildung haben. Statt gesellschaftlicher Privilegien muss es Chancengleichheit für alle geben. Wie aktuell ist das weiterhin! Es ist kennzeichnend, dass die Reuter-Namen einer Stadtlandschaft gegeben worden sind, die inzwischen als ein frühes Projekt sozialen Wohnungsbaus zu Weltgeltung gekommen ist. Bei vielen Erstbewohnern damals hat die Nähe zu Gewerkschaften und zur SPD eine Rolle gespielt. „Poesie fällt stets mit dem rein menschlichen Erbarmen für den Unterliegenden zusammen“: Fritz Reuter, der das schrieb – er eignete sich gut als Namenspatron für ein Wohnungs-Sozialprojekt. Und: Reuter der Künstler, der gerne Architekt geworden wäre, eignete sich gut als Namensgeber für Straßen mit meisterhafter Baukunst. Reuter ist ferner ein großer Naturliebhaber gewesen. Auch damit waren er und seine literarischen Gestalten sinnvolle Vorbilder für die Britzer Straßen mit ihren Gartenanlagen in ‚Licht, Luft und Sonne’.
In Berlin arbeitete damals in der Stadtverwaltung an verantwortlicher Stelle Wilhelm Henschel. Henschel stammte aus Altentreptow in Vorpommern und hat eigene plattdeutsche Texte veröffentlicht. Er war auch Schriftführer des Berlin-Brandenburgischen „Plattdeutschen Verbandes“, der etwa 2000 Mitglieder zählte. 1934 ging Henschel in den Ruhestand und zog zurück nach Altentreptow. Als er dort 1938 starb, hat der Berliner Oberbürgermeister an Henschels Beerdigung teilgenommen. (Nach Mitteilungen von August Bath, Neubrandenburg.) Wir dürfen vermuten, dass es Wilhelm Henschel gewesen ist, der an der Namensgebung der Reuter-Straßen in Britz entscheidend mitgewirkt hat. Denn Henschel war ein Verehrer Reuters. In einem Gedichte hat er geschrieben: „Fritz Reuter, Din Wark in uns’ Muddersprak / Ward dusend von Johren noch stahn ...“
Spazieren wir durch Leben und Werk Fritz Reuters, indem wir den Reuter-Straßen in der Hufeisen- und Krugpfuhlsiedlung folgen! Wir beginnen mit Straßen, die einen besonderen Bezug zur Biographie des Dichters haben. Die Fritz-Reuter-Allee heißt nicht „Straße“, sondern „Allee“. Dadurch wird die Persönlichkeit des Dichters hervorgehoben, wie es such durch die stadtgeographische Bedeutung der Allee geschieht.. Als eine der ersten ist die Stavenhagener Straße am 18. Oktober 1926 benannt worden. Die Straße bezieht sich auf den Geburtsort des Dichters im östlichen Mecklenburg. Seit 1949 heißt der Ort Reuterstadt Stavenhagen. Die Stadt ist eine der wenigen Orte in Mecklenburg-Vorpommern, denen es heute wirtschaftlich ausgesprochen gut geht. So kann die Stadt es sich erlauben, allen Kindern und Jugendlichen die Mitgliedschaft in Turn- und Sportvereinen zu finanzieren. Das würde Reuter sehr freuen, war er doch selbst ein begeisterter Turner. Sein Geburtshaus am Markt beherbergt jetzt das Fritz-Reuter-Literaturmuseum. Es gilt als eines der schönsten Literaturmuseen Deutschlands. Vor dem Geburtshaus steht ein 1911 eingeweihtes Denkmal. Es zeigt den Dichter, in Stein gehauen, auf einem Sessel sitzend, zu beiden Seiten sind Bronzereliefs postiert, die Szenen aus seinen Werken abbilden, alles gestaltet von Professor Wandschneider aus Berlin. Reuters Vater war Bürgermeister und Stadtrichter in Stavenhagen. Zugleich unterhielt er eine große Landwirtschaft und ein florierendes Brauereiunternehmen. Die Mutter war nach der Geburt eines zweiten Kindes gelähmt und starb bereits, als Fritz fünfzehn Jahre alt war. Er hat zur Mutter ein inniges Verhältnis gehabt. Ihr früher Verlust hat sich bei ihm vermutlich als lebenslanges Trauma ausgewirkt, ein Grund wohl für seine periodisch wiederkehrende Alkoholkrankheit. Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn war konfliktreich. Der Vater hatte für die künstlerische Veranlagung des Sohnes kein Verständnis, sondern wollte ihn zu seinem Nachfolger formen. Darum dirigierte er ihn ins Jurastudium und ließ ihn dabei überwachen. Das konnte nicht gut gehen. Zweimal ist Reuter im Studium gescheitert, schließlich hat der Vater den Sohn so gut wie enterbt. Die Gräber von Reuters Eltern sowie von weiteren Persönlichkeiten seiner Jugendzeit sind noch heute auf dem Friedhof in Stavenhagen zu besuchen.
Zu den Menschen, die Reuter geprägt haben, gehörte Onkel Herse. Er wird in Britz durch eine Straße in Erinnerung gehalten. Herse war Ratsherr und hat das Kind Fritz zeitweise unterrichtet. Als Anhänger von Turnvater Jahn hat Herse Reuter für das Turnen begeistert. Er hat ihm die Natur erklärt und ihm Stimmen von Tieren und Vögeln gedeutet. Überhaupt war Herse ein gemütvoller und humorvoller Mensch, immer aufgelegt zum Erzählen und zum Scherzen. Er hatte sich kindliche Unbekümmertheit bewahrt, ganz anders als Reuters strenger Vater.
In der Nähe von Stavenhagen liegen weitere Kleinstädte, die des Dichters Biographie mitbestimmt haben. In Britzer Straßennamen finden wie sie wieder. Gielow war wichtig, weil es dort eine große Mühle gab. Diese Mühle und Müller Voß spielen in Reuters Roman Ut de Franzosentid eine wichtige Rolle. Die „Franzosenzeit“ in Mecklenburg hat bis 1813 gedauert. Es war die Zeit der Fremdherrschaft unter Napoleon, und sie fiel mit Reuters ersten Lebensjahren zusammen. Viel hat er ferner über diese Zeit erzählen hören. Schon früh wusste er also um Bedrückung und Gewalttat und ist schon als Kind nicht nur mit regionalen, sondern auch mit globalen Problemen in Berührung gekommen. Nicht umsonst betont Reuter in seinem Buch Meine Vaterstadt Stavenhagen, von seinem Geburtsort aus gingen Straßen bis nach Paris und Petersburg. Im Franzosentid-Roman schafft es übrigens Müller Voß aus Gielow, mit seiner Trinkfestigkeit einen plündernden Franzosen buchstäblich unter den Tisch zu trinken – eine berühmte humoristische Szene in Reuters Werk, etwas klamaukig ist sie, aber auch tiefsinnig: denn „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“ (Otto Julius Bierbaum). Reuter erzählt, wie mit Humor sogar eine Besatzungsmacht ausgehebelt wird, die sich die Herrschaft angemaßt hat.
In der Nähe von Stavenhagen liegt Teterow, ebenfalls mit einer Straße in Britz vertreten. Auch Teterow hat der Dichter zur „Franzosenzeit“ in Beziehung gesetzt. Dort spielen ein lustiges Gedicht und ein Bühnenschwank von Reuter, betitelt Blücher in Teterow. Erzählt wird, wie während der Befreiungskriege gegen Napoleon Blücher einmal unerkannt auf einem offenen Wagen durch Teterow gefahren sei. Dabei habe der Feldherr Pfeife geraucht, was damals in Öffentlichkeit verboten war. Eine städtische Aufsichtsperson habe dem „Marschall Vorwärts“ die Pfeife abgenommen. Doch als bekannt wurde, es habe sich um den berühmten Blücher gehandelt, da sei man ihm hinterher gefahren, um ihm die Pfeife wieder zurückzugeben. Doch Blücher habe sie nicht angenommen, sondern nur gesagt: „Futsch is futsch.“
Eine andere Britzer Straße ist nach Malchin benannt, der Geburtsstadt Reuters benachbart. Malchin war damals für Mecklenburg von besonderer Bedeutung, weil hier der Landtag zusammen trat. Auch ein Schulfreund Reuters, Karl Krüger, stammte aus Malchin. Vor allem lag das Gut Demzin in der Nähe der Stadt. Auf diesem Gut hat Reuter nach schwerer Krisenzeit etwa vier Jahre lang als Volontär in der Landwirtschaft gearbeitet und gelebt.
Kommen wir zur Stadt Parchim! Sie wird in Britz mit einer Allee in Erinnerung gerufen, außerdem mit dem Namen einer U-Bahnstation. Reuter war zunächst im ostmecklenburgischen Friedland auf das Gymnasium gegangen. Seine schulischen Leistungen waren sehr mäßig. Der Vater erhoffte sich von einem Schulwechsel Besserung und schickte den Sohn darum auf das Gymnasium nach Parchim, nahe bei der Landeshauptstadt Schwerin gelegen. In Parchim war der Vater einst selbst auf dem Gymnasium gewesen. Die Leistungen des Sohnes freilich blieben dürftig, zeitweise scheint er in Parchim bereits an depressiven Verstimmungen gelitten zu haben. Erst 1831 – da war Reuter knapp 21 Jahre alt – erhielt er das Zeugnis der Reife. Wichtig für seine Biographie wurde Parchim auch als Ort seiner ersten Liebe. Er verlor sein Herz an die schöne Bürgermeistertochter Adelheid Wüsthoff, „Ate Wüte“, wie er sie zärtlich nannte. Er hat sie angeschwärmt und angedichtet. Die Liebesbande konnten sich jedoch nicht festigen. Denn – so berichtet Reuter später humorvoll – „als dem Herrn Bürgermeister meine Leidenschaft kundbar wurde, ließ er mir ausrichten: ‚Wenn ick dat nich sin let, zeigte hei ’t bi’n Schauldirektor an’.“ Adelheid Wüsthoff hat später als verheiratete Frau im mecklenburgischen Malchow gelebt. Reuter hat noch mehrfach mit ihr in Kontakt gestanden.
Für seine Gymnasialzeit müssen wir erwähnen, dass sie ihn mit freiheitlichem Gedankengut in Berührung gebracht hat. In Friedland wie in Parchim hat er Lehrer gehabt, die als Studenten in den Befreiungskriegen mitgekämpft hatten und dann Burschenschafter geworden waren. Die Burschenschaft, 1813 in Jena gegründet, vertrat die Anliegen geistiger und politischer Freiheit und proklamierte das öffentlich. Sie tat das, obwohl in der sogenannten „Metternich-Ära“ die europäischen Mächte Preußen, Österreich und Rußland wieder zu alten politischen Zuständen zurück lenkten, auch zu einengenden Zensur- und Zollbestimmungen. Die Burschenschaft trat dagegen auf und hielt am Ziel einer Vereinigung der vielen deutschen Fürstentümer zu einer einzigen deutschen Nation fest. Darum war die Burschenschaft den Herrschenden ein Dorn im Auge. So hat Reuter in einer großen Freiheitsbewegung gestanden. Sie reicht von Luther 1517 über die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, über die Revolutionen von 1848 und 1918/19 sowie über die friedliche Revolution von 1989. In die Vorgeschichte der 1990 verwirklichten deutschen Einheit in Freiheit gehört Reuter mit hinein.
Nach einem Semester Jurastudium in Rostock erlaubte der Vater, dass der Sohn nach Jena wechseln konnte. Seine erste Handlung dort war es, in die Burschenschaft einzutreten. Doch als einige Monate später radikalisierte Burschenschafter in Frankfurt am Main gewaltsam gegen die dortige Polizeiwache vorgingen, hatten die Regierungen einen willkommenen Anlass, die Burschenschafter zu verfolgen. Reuter war lebenslang demokratisch gesonnen, hat sich aber an radikalen Aktionen nicht beteiligt. Dennoch wurde er 1833 während eines Aufenthaltes in Berlin ungerechter Weise verhaftet, wegen angeblicher Staatsgefährdung zum Tode verurteilt und dann zu dreißig Jahren Festungshaft „begnadigt“. Sieben Jahre hat er ‚absitzen’ müssen, zumeist in preußischen Haftanstalten, oft unter unmenschlichen Bedingungen, der besten Jugendjahre beraubt. Von den verschiedenen Haftanstalten findet sich unter den Britzer Straßen der Name der letzten Station – die Festung Dömitz, im westlichen Mecklenburg an der Elbe gelegen.
Nach der Entlassung 1840 begannen für Reuter zehn Jahre schmerzhafter Selbstfindung, verbunden mit Phasen der „Werdehemmung“, wie das die Psychologie nennt: zunächst unternahm er einen erneuten Studienversuch, scheiterte, wurde dann Landwirtschaftseleve in Demzin, dann Mitarbeiter auf einem anderen Gut. Mit dem Namen dieses Gutes kommen wir zur Talberger Straße. Sie erinnert an das Gutsdorf Thalberg bei Altentreptow. Dort hat sich Reuter in den Jahren 1844 bis 1848 meistens aufgehalten. Später ist er oftmals zu Besuchen in Thalberg gewesen. Hier fand er, der Heimatlose, in der Familie des Gutsbesitzers Fritz Peters Geborgenheit. Peters wurde zu Reuters lebenslangem Freund, er glaubte an dessen Qualitäten. Mit Blick auf seine Landmannszeit hat Reuter geschrieben: „Ich segne die Landwirtschaft, denn sie hat mich gesund gemacht.“ In die Thalberger Jahre fallen erste wichtige schriftstellerische Arbeiten Reuters. 1850 entschloss er sich, als Privatlehrer in Altentreptow zu arbeiten; hier stellten sich erste Erfolge als Schriftsteller ein. Ab 1856 entstanden dann in Neubrandenburg die meisten bedeutenden Werke. 1863 zog Reuter ins liberalere Thüringen nach Eisenach, fort aus Mecklenburg, dem damals rückständigsten deutschen Land. Welch eine Traumkarriere! Aus einem ‚verlorenen Sohn’, von vielen als ‚Taugenichts’ angesehen, war ein freier, unabhängiger Mann geworden, der zeitweise bestverdienende deutsche Schriftsteller, eine nationale, bald auch internationale Berühmtheit. Reuters Werke sind in die meisten europäischen Sprachen und ins amerikanische Englisch, auch ins Japanische übersetzt worden. Sein weltliterarischer Rang zeigt sich nicht zuletzt in seiner Wirkung auf andere bedeutende Schriftsteller – auf Wilhelm Raabe und Theodor Fontane, auf Mark Twain und Thomas Mann, auf Walter Kempowski und Uwe Johnson. Nobelpreisträger Günter Grass sagt von Reuter, er sei ihm „immer ein anregender Kollege gewesen“. Die Fritz-Reuter-Straßen im UNESCO-Weltkulturerbe Hufeisensiedlung sind also nach einem „Weltdichter“ benannt.
Einen Menschen aus Reuters Biographie gilt es besonders hervorzuheben, in Britz ebenfalls durch einen Straßennamen gewürdigt: Es ist die mecklenburgische Pastorentochter Louise Reuter geb. Kuntze, plattdeutsch Lowise, Reuters Frau. Nach langer Verlobungszeit haben beide in der Altentreptower Zeit endlich heiraten können. Ohne Lowise, da ist sich die Forschung einig, hätte Reuter kaum die Kraft zu seinen großen Werken gefunden. Louise stand zu ihm und fing ihn auf, wenn er wieder in die Krankheit abgestürzt war. In einem Brief hat der Dichter seine Frau Louise seinen „Engel“ genannt, einen „Engel des Lichts“. Dass man bei der Straßenbenennung gerade eine ringförmige Straße mit Lowises Namen verbunden hat, ist tiefsinnig, lässt sich doch die Ring-Symbolik als Anspielung auf die Liebe und Ehe von Fritz und Louise ansehen. Lowise hat ihren Mann einmal gebeten, er möge doch für sie einen Grabspruch entwerfen. Lange wollte er es nicht und sagte, das sei ihm zu schmerzlich. Schließlich aber tat er es doch und formulierte: „Sie hat im Leben Liebe gesät, sie wird im Tode Liebe ernten.“
Wir folgen nun den Straßen, die nach Werktiteln Reuters benannt worden sind. Drei Titel begegnen uns. Zunächst das Versepos Kein Hüsung, im Straßennamen zu „Hüsung“ verkürzt. „Hüsung“ ist das plattdeutsche Wort für „Haus“ und „Häuslichkeit“, meint nicht nur eine zweckmäßige Wohnung, sondern hat einen stark emotionalen Bedeutungsgehalt: „Behausung“, „Geborgenheit“ schwingen mit. „Hüsung“ ist, wo ich „zu Hause“ bin, wo ich „Heimat“ habe. Die Story von Reuters Versepos Kein Hüsung dreht sich um ein Liebespaar. Johann und Marie sind Tagelöhner auf einem Rittergut und wollen seit langem heiraten. Marie erwartet ein Kind von Johann. Nach den damaligen Gesetzen war Heirat von Tagelöhnern nur möglich, wenn der Gutsherr die Zustimmung gab und eine Wohnung gewährte. In diesem Falle verweigert der Herr die Zustimmung und Wohnung, Marie und Johann haben also „keine Hüsung“. Das ist ein Racheakt des Herrn. Er hatte nämlich einmal mit Marie seine Lust haben wollen, – doch sie hatte sich ihm verweigert. Auch sonst ist der Gutsherr ein Teufel in Menschengestalt und quält seine Leute. Während einer Auseinandersetzung schlägt er mit der Peitsche nach Johann, der daraufhin im Affekt den Herrn mit einer Forke ersticht. Johann muss fliehen. Er geht nach Amerika. Nach zehn Jahren kehrt er heimlich zurück, um seinen Sohn zu holen. Marie ist längst verstorben. Johann aber nimmt seinen Sohn mit in die Freiheit, damit dieser dort wahre „Hüsung“ finden kann. „Fri sall hei sin“, „Frei soll der Mensch sein, frei“ – das sind die letzten Worte dieser Dichtung. Reuter hat geäußert, er habe dieses Werk mit seinem „Herzblut“ geschrieben.
Ein anderes Versepos Reuters ist ebenfalls eine Liebesgeschichte. Sie handelt von der Kleinstbauerntochter Fiken Schmidt und dem Schmiedegesellen Johann Snut, genannt Hanne Nüte. Hanne geht auf Handwerkerwanderschaft. Für die Trennungszeit der Beiden zeigt Reuter, wie die jungen Liebenden sich bewähren, jeder für sich auf eigene Weise. Schließlich werden sie ein glückliches Paar – ein happy end also. Es ist eine Dichtung voll von herrlichen Naturschilderungen und von praller Lebensfreude. Selbst den Herrgott hat Reuter als einen lachenden Gott gezeichnet. Er freut sich mit seinen Geschöpfen mit, macht sein Himmelsfenster auf und ruft: „heut’ sieht’s auf Erden lustig aus, nun tanzt man schön und singt noch mal!“ Diese Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen und zwischen Himmel und Erde – sie ist der Hintergrund für die Hanne-Nüte-Straße.
Der dritte Werktitel unter den Straßennamen ist Dörchläuchting. Der Name ist die plattdeutsche Verniedlichung von „fürstliche Durchlaucht“. In diesem Falle geht es um Herzog Adolf Friedrich IV. von Mecklenburg-Strelitz, der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts regiert hat Reuters Roman ist eine scharfe Satire. Der Dichter hat den Herzog bewusst verzeichnet, um Fürsten- und Feudalherrschaft lächerlich zu machen. Der modevernarrte Fürst im Roman hat große Angst vor Gewitter und vor der Arbeit, vor Frauen, vor dem Tod und vor einer Revolution. Diesem schwächlichen Fürsten hat Reuter selbstbewusste Bürger gegenüber gestellt. An ihnen zeigt er die wahren Werte des Lebens: Freude an der Natur, an Kultur und Wissenschaft, an ehrlicher Arbeit und am Wirken für die Gemeinschaft, verbunden mit verantwortlichem Geldgebrauch und mit dem Einsatz für Arme und Benachteiligte. Reuter fordert nicht Besitzgleichheit, aber Chancengleichheit für alle. Er ermutigt zum Vertrauen in einen guten Sinn des Lebens. Zwei Frauen spielen in diesem Roman wichtige Rollen, sie sind in zwei Britzer Straßennamen festgehalten worden.
Damit kommen wir zu den Straßennamen, die nach Figuren in Reuters Werken benannt worden sind. Aus dem Roman Dörchläuchting ist es zunächst Korlin, plattdeutsch abgeleitet von „Karoline“. Korlin Soltmann war einst als Zofe bei Hofe tätig und machte schließlich eine gute Erbschaft. Ihr Geld will sie nun nutzen, um sich einen Ehemann „einzufangen“. Das gelingt ihr zunächst nicht recht, schließlich aber bekommt sie doch einen Mann – den Hofpoeten Kägebein. Mit einer Ehe wird auch die zweite Frauengestalt beglückt: es ist Dürten Holz, ihr Name ist die plattdeutsche Form von „Dorothea“ – in Britz kehrt sie in der Dürtenstraße wieder. Im Roman ist Dürten eine schon etwas reifere Haushälterin. Rührend kümmert sie sich um ihren altgewordenen, armen Vater und wird schließlich über alle Standesunterschiede hinweg – in echter Liebesheirat – von ihrem Arbeitgeber, dem Konrektor und Kantor Äpinus geehelicht.
Wenn wir Reuter lesen oder seine Texte hören – es gibt mehrere Reuter-Hörbücher – dann begegnen uns seine literarischen Gestalten mit Moden und Meinungen des 19. Jahrhunderts. Gleichwohl können wir an ihnen beispielhaft menschliches Verhalten ablesen. Reuter zeigt uns die Welt und die Menschen nicht nur, wie sie sind, sondern auch, wie sie sein könnten. Seine Figuren spiegeln nicht nur die „gute alte Zeit“ wider, sondern sie rufen uns nach vorn, hin zu einer gebesserten, einer toleranteren und gerechteren Welt. Viel utopische Energie steckt auch in Reuters bedeutendster Dichtung Ut mine Stromtid, einem Roman in drei Bänden. Der Berliner Literaturwissenschaftler Professor Miller hat die Stromtid einen „Weltroman“ genannt. Die Handlung spielt in der Zeit vor und in der Revolution von 1848 und entfaltet breite Lebenspanoramen am Beispiel dörflichen und kleinstädtischen Lebens in Mecklenburg-Vorpommern. Reuters Stromtid ist ein „Gesellschaftsroman“ des poetischen Realismus, wie solche Romane in anderer Weise auch Charles Dickens und Gustav Freytag, Gottfried Keller und Theodor Fontane geschrieben haben.
In Reuters Stromtid gibt es den „Typ“ Jochen Nüßler, nach dem eine Straße in Britz benannt ist. Nüßler ist ein bürgerlicher Gutspächter, recht eigentlich regiert seine Frau die Bauernwirtschaft und die Familie, er selbst ist auffallend zurückhaltend, aber doch liebenswert.„Im Leben ist alles so, wie das Leder ist“: das ist ein ständiger Schnack von Jochen Nüßler, also: das Leben ist zäh, bewegt sich nicht recht, meint er (weil er sich selbst nicht bewegt), mal sehen, was kommt, falscher Eifer schadet nur. „Was soll man dabei machen?“, das ist Jochen Nüßlers Lebensphilosophie. Die Nüßlers haben ein entzückendes Zwillingspärchen, die beiden Mädchen heißen Lining und Mining (abgeleitet von Lena und Minna), auch sie sind in Britzer Straßen vertreten. An einem Brunnen am Neuköllner Reuter-Platz sind sie plastisch dargestellt worden. In der Charakterisierung von Lining und Mining hat Reuter seine Liebe zu Kindern Gestalt werden lassen. Zur Tragik der Eheleute Reuter gehörte es, dass sie, wiewohl gewünscht, keine eigenen Kinder hatten. Im Stromtid-Roman verfolgt der Dichter die Entwicklung von Lining und Mining bis hin zu beider Hochzeiten und zu eigenen Kindern. Den großen Stromtid-Roman, wie auch andere Reuter-Werke, gibt es in guter hochdeutscher Übertragung.
Ein Sonderfall unter den Britzer Straßen ist die Paster-Behrens-Straße. Seit 1927 hieß sie zunächst Moses-Löwenthal-Straße und erinnerte an die Gestalt eines ehrlichen und edlen Juden in der Stromtid. Im Vergleich mit anderen Schriftstellern seiner Zeit hat Reuter ein auffallend positives Verhältnis zu den Juden gehabt, übrigens auch zu Vertretern des Islam. Reuter stand für kulturelle und religiöse Toleranz, wie sie Lessing im Drama Nathan der Weise gepredigt hat. Doch als die Nazis an die Macht gekommen waren, mit ihrem Hass und Vernichtungswillen gegenüber den Juden, da wurde die Moses-Löwenthal-Straße am 21. Oktober 1933 in Paster-Behrens-Straße umbenannt. Pastor Behrens in der Stromtid ist ein weitherziger, kulturoffener Vertreter der Kirche, ganz den Menschen zugewandt, sein liebster Bibeltext ist die „Bergpredigt“ Jesu Christi; in ihr heißt es: „Selig sind die Friedfertigen, selig sind die Barmherzigen“.
Der Straßenname Krischanweg – plattdeutsch für „Christian“ – ist nicht eindeutig zuzuordnen. Möglich wäre ein Bezug zu „Krischan Schult“ in Reuters unvollendet gebliebenem Roman De Urgeschicht von Meckelnborg. Dort vertritt Krischan radikaldemokratische Ideen, fordert die Enteignung von ungerecht erworbenem Besitz. Als Krischan darüber mit dem Landesfürsten diskutiert und der Herzog sagt, jeder solle doch vor der eigenen Tür kehren, da erwidert Krischan, Demokraten beschränkten sich nicht auf den eigenen Besitz, ihnen gehe es um das Wohl aller Menschen, wörtlich: „Demokraten kehren auch vor den Türen anderer.“ – Möglich ist aber auch, dass Krischan auf die Gestalt eines Kutschers in der Stromtid hinweist, auf einen verlässlichen Mitarbeiter und einen Vermittler zwischen Menschen und Tieren.
Die Rambowstraße bezieht sich auf zwei Gutsbesitzer in der Stromtid. Reuter stellt die „Rambows“ als Angehörige des mecklenburgischen Uradels vor: der eine ist ein positiver Vertreter, der sich um die Tagelöhnerfamilien seines Gutes kümmert; der andere aber hat sein Vermögen beim Spielen und Pferdewetten verloren, und er hätte Selbstmord begangen, wenn ihn nicht Onkel Bräsig, der emeritierte Gutsinspektor, gerettet hätte. Nach Onkel Bräsig und seinem Freund Karl Hawermann sind auch Britzer Straßen benannt worden. Bräsig und Hawermann sind Hauptgestalten in Reuters Stromtid, sie sind Leitfiguren für Ehrlichkeit und Nächstenliebe, ein ideales Freundespaar. Bräsig ist Reuters bekannteste und bedeutendste Figurenschöpfung. Er pflegt – als Ausdruck innerer Freiheit – einen ganz eigenen Sprachstil, eine Mischung aus Hochdeutsch und Plattdeutsch, verbunden mit einer absichtlich verdrehten Grammatik. Bräsig ist immer zur Stelle, wo Not am Mann ist. Er taucht mal hier, mal dort auf, immer anderen Menschen zugewandt und ihnen helfend, sie beratend und entlastend. Mit seiner Mobilität ist Bräsig eine ausgesprochen „moderne“ Gestalt. Er hat selbst schweres Leid erfahren, vermag es aber dennoch, immer wieder einen höheren Standpunkt zu gewinnen. Seine Weitsicht befähigt ihn, seinen Humor nicht zu verlieren. „Dass du die Nase ins Gesicht behältst“, sagt er oft und gerne. In dieser Redewendung schwingt Staunen über das Geschenk des Lebens mit, und sie drückt die Zuversicht aus, dass alles irgendwie gut werden wird. Für Bräsig ist Humor eine Kraft des Widerstands und eine Waffe der Hoffnung. Mit Humor hilft er sich selbst und anderen über Enttäuschungen hinweg. Fritz Reuter hat in seine Bräsig-Gestalt Grundsätze eingezeichnet, wie sie ihn selbst bestimmt haben, etwa: Nur nicht das Vertrauen zum Guten aufgeben, nur nicht die Freude am Leben verlieren, auch den Humor nicht, damit „du die Nase ins Gesicht behältst ...“